Der 8. April 1945 bedeutete für das Dorf Büderich das Ende des Zweiten Weltkriegs. Büderich.digital möchte anlässlich des heutigen Gedenktags – 8. Mai 2025: Kriegsende in Deutschland – an diese dramatischen und weitreichenden Ereignisse vor 80 Jahren erinnern. Der gebürtige Büdericher Norbert Theine hat seine Erlebnisse an die Tage rund um die Einnahme Büderichs durch die Amerikaner aufgeschrieben. Er war damals ein 14jähriger Junge, kann sich aber bis heute mit beeindruckender Detailgenauigkeit an diese Zeit erinnern. Norbert Theine möchte seine Erinnerungen mit uns teilen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Von uns allen ein herzlicher Dank dafür.
Hier nun seine Aufzeichnungen:
Ende März 1945:
Von Süden über Gießen, Marburg und Brilon rückte die 8. US-Panzerdivision vor und traf bei Lippstadt auf die 9. US-Armee. Diese hatte mit starken britischen und kanadischen Verbänden ab dem 23. März 1945 (insgesamt rund 1,2 Millionen Soldaten) bei Wesel über den Rhein gesetzt. Während die Briten und Kanadier in Richtung Nordwest vorrückten, zielten die US-Einheiten Richtung Osten entlang nördlich der Lippe und schlossen am 1. April 1945 bei Lippstadt den Ruhrkessel. Aus dem Raum Lippstadt schwenkte die 8. US-Panzerdivision nun Richtung Westen. In wenigen Tagen wurden Geseke, Erwitte und Soest besetzt. Am 6. April erreichten diese Einheiten den Ostrand von Werl. Darunter die US-Kampfgruppe van Houten. Am 7. April 1945 begann der Angriff auf Werl. Das 379. US-Infanterie-Regiment rückte mit Panzerunterstützung aus dem Raum Sönnern gegen den Flugplatz und das Zuchthaus vor und erreichte abends die Bahnlinie. Von Osten griff die Kampfgruppe van Houten an und besetzte die Stadtmitte und den Westen von Werl. Es war der Samstag vor dem Weißen Sonntag.
Am Späten Samstagnachmittag konnten wir Jungs vom Wandweg aus beobachten, wie die US-Panzer am Westrand von Werl auffuhren und sich in Stellung brachten. Einer neben dem anderen mit Marschrichtung Büderich. Wir ahnten, jetzt geht es los. In der Nacht zum Weißen Sonntag blieb es jedoch ruhig.

Auf deutscher Seite standen den Amerikanern Reste der 116. Panzerdivision „Windhund“, eine seit ihrem Einsatz in der Normandie legendäre Einheit, gegenüber. Bei ihrem Rückzug vor den Amerikanern kamen sie mit ihrem schweren Gerät auch nach Büderich. Tagsüber suchten sie Schutz vor feindlichen Jagdbombern, so auch zwei Tage vor dem 8. April 1945 bei unserem Haus in der Oststraße (heute Schlesienstraße). Ein Panzer und zwei Kettenfahrzeuge mit Besatzung hatten unseren östlichen Zugang zum Obsthof am Wandweg niedergewalzt, die Weißdornhecke teilweise platt gemacht und unter den grünenden Obstbäumen Stellung bezogen. Einige Obstbäume wurden dabei zermalmt. Mein Bruder Franz und ich hatten dieses bemerkt und meldeten es unserer Mutter. Sie ging mit meinen Schwestern Marlene und Anneliese an der Hand zu den deutschen Soldaten und bat, doch bitte nicht so viel Schaden anzurichten. Ich sehe es noch vor mir: Ein junger Soldat, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt, tauchte in der Panzerluke auf und bedrohte unsere Mutter mit den Worten: „Die Russen haben meine Eltern und unsere ganze Familie in Schlesien umgebracht und Sie regen sich auf über kaputte Obstbäume. Wenn Sie nicht sofort verschwinden, drehe ich meine Kanone und schieße Ihr Haus zusammen!“ Darauf schaltete sich ein Offizier, offenbar sein Vorgesetzter, ein und stauchte seinen Kameraden zusammen. Der junge Bursche war wohl am Rande eines Nervenzusammenbruchs, was verständlich war. Wir waren entsetzt und zogen uns ins Haus zurück. Abends waren diese Soldaten samt ihrem Gerät verschwunden.
Dann kam der nächste Morgen: Weißer Sonntag.
Die einzige noch verbliebene Glocke in der Kirche St. Kunibert läutete zur Frühmesse mit der Erstkommunionfeier. Die Kirche war voll. Man muss sich diese Szene vorstellen: Jeden Augenblick konnte der Panzerangriff beginnen und die Hölle losbrechen, aber zwei Kilometer von der Frontlinie entfernt versammelten sich die Büdericher zur Erstkommunionfeier in ihrer Pfarrkirche. Mein späterer Schwager Hubert Peters war auch dabei, Jahrgang 1936. Aber es blieb alles ruhig. Offenbar hatte der Kommandant der US-Kampfgruppe van Houten seinen Soldaten einen Ruhetag gegönnt. So blieb es bis zum Nachmittag.
Soldaten der Windhund-Division hatten sich, bewaffnet mit Karabinern, Maschinenpistolen und Maschinengewehren nebenan auf dem Feld Wellie und Bartmann eingegraben, Blickrichtung Werl. Mein Bruder Franz und ich sowie die Nachbarjungs Heinz und Willi Drees waren mitten drin im Geschehen. Wir unterhielten uns mit den Soldaten und bestaunten die Waffen. Gegen 18.00 Uhr konnten wir durch ein Fernglas Bewegung bei den amerikanischen Panzern ausmachen. Die „Windhunde“ wurden nervös und warnten uns: „Jungs verschwindet hier, ab in den Keller. Es geht gleich los!“
Willi Drees und ich liefen zu unserem Haus und brachten uns dort im Keller in Sicherheit. Mein Bruder Franz und Heinz Drees liefen Richtung unserem Nachbarn Wellie, hielten sich dort wohl noch länger in Beobachtungsstellung auf und konnten nicht mehr rechtzeitig unseren Luftschutzkeller erreichen, als gegen 20.00 Uhr der Beschuss durch Panzerkanonen einsetzte. In unserem Keller waren zusammen mit einigen Nachbarn ca. 12 Leute. Unsere östliche Hauswand wurde mit einem Hagel von MG-Munition beschossen. Direkt über unserem Luftschutzkeller schepperte es gewaltig. Kugeln hatten die Küchenfenster durchschlagen und unseren Küchenschrank samt Porzellan in Trümmer gelegt. Wenige Tage vorher erst hatten wir das nach Osten gelegene Kellerfenster mit dicken Bruchsteinen verbarrikadiert. Zu unserem Glück, denn so prallten die MG-Salven dort ab und wir überlebten dicht dahinter im Keller.

Wir hörten Panzer dicht an unserem Haus vorbei rasseln und immer wieder erschreckte uns das Knattern der Panzerkanonen und das Rattern der MG.
Und dann war plötzlich Stille.
Unsere Mutter hatte vorsorglich die Hauseingangstür und auch die Küchentür nach draußen zum Hof nicht verschlossen. So konnten die Soldaten der Kampftruppe van Houten ins Haus (das erste Haus in Büderich, das eingenommen wurde). Wir hörten oben im Flur Schritte und dann kamen 4 oder 5 Soldaten mit entsicherter MP die Kellertreppe herunter. Sie durchsuchten alle Keller nach deutschen Soldaten, aber die gab es in unserem Hause nicht. Die Amerikaner wirkten angespannt, bedrohten uns aber nicht und irgendwie waren wir erleichtert, dass wir mit dem Leben davongekommen waren. Erst nach einer guten halben Stunde trauten wir Jungs uns nach oben in die Diele, wo uns Soldaten aufhielten und uns zurückschickten. Wir konnten aber einen Blick nach draußen werfen und da brannte es rund um uns: Beim Nachbarn Stute-Romberg das Wohnhaus und die Remise, bei Sträter die Scheune und die Remise, bei Romberg, bei Wortmann und bei unserem Nachbarn Bartmann der Dachstuhl. Und auch bei uns in der Diele roch es nach Rauch. Sollte wohl auch unser Dachstuhl brennen? In einem unbewachten Moment schlichen wir Jungs uns nach oben bis unter das Dach und siehe da: In der nordöstlichen Ecke unseres Dachbodens qualmte es. Leuchtspurgeschosse hatten getrocknete Kräuter zum Glühen gebracht. Wir griffen zur Feuerpatsche und löschten die Glutnester mit Wasser, was in zwei Zinkwannen auf dem Dachboden immer bereitstand.
In dieser Nacht konnten wir noch nicht wieder zurück in unsere Betten. Dort schliefen die Amerikaner, wie auch in allen übrigen Räumen im Hause. Zudem lag Büderich unter dem Störfeuer deutscher Artillerie, die sich aus Büderich Richtung Schlückingen/Schafhausen zurückgezogen und dort Stellung bezogen hatte. In unregelmäßigen Abständen explodierten Granaten. Häuser und andere Gebäude wurden getroffen. Auch die Pfarrkirche bekam drei Treffer. Eine Granate explodierte im Gewölbe des nördlichen Kreuzschiffes, eine weitere in der Kehle der tragenden dicken Säule rechts in Höhe der Kommunionbank. Trümmer bedeckten den Boden der Kirche an diesen Stellen. Eine dritte Granate schlug auf der Südseite im Mauerwerk ein und beschädigte einen der Strebebögen. Die Chorfenster wurden schwer beschädigt. Etwa ein Drittel des wertvollen Glases lag zersprungen am Boden. Malermeister Franz Mawick sorgte in den Wochen danach eigenhändig dafür, dass Löcher zunächst mit Klarglas geschlossen wurden.
Am Tag danach:
Kein Feuer mehr, aber überall Brandgeruch. Noch am vorigen Abend hatten die Amerikaner nach Büderich auch noch Holtum eingenommen. Die amerikanischen Soldaten sammelten sich und verließen auch unser Haus. Nun ging es weiter gegen Hemmerde und weiter Richtung Westen. Wir sahen uns daraufhin im Garten und Obsthof um. Von dort konnten wir die Militärfahrzeuge auf der Reichsstraße 1 (heute Bundesstraße 1) erkennen, darunter viele schwere Panzer Marke Sherman, die gen Westen zogen. Zwei Tage lang dauerte das Störfeuer der deutschen Artillerie von der Haar aus noch an. Da wir jedoch schnell feststellten, dass der Beschuss nur bis zum Hof Bresser, etwa 150 m südlich von uns reichte, räumten wir unsere Kellerbehausung und schliefen wieder in unseren Betten.

Die Front entfernte sich in westliche Richtung. Wir konnten uns wieder frei bewegen. Am Dienstag nach dem Weißen Sonntag mussten wir jedoch unser Haus für die amerikanische Kommandantur komplett räumen. Eine halbe Stunde hatten wir Zeit, ein paar Sachen zusammenzupacken. Im Haus von Lehrer Wilmes und bei Mawicks an der Chaussee fanden wir Obdach. Mawicks hatten bereits Migranten aus ihrer Verwandtschaft in Niederlahnstein am Rhein aufgenommen. Nun kamen wir noch als „Flüchtlinge“ aus Büderich hinzu. Die einfache Lösung lautete: Zusammenrücken, sowohl in den Betten als auch am Tisch bei den Mahlzeiten.
Einige Tage später war das Intermezzo wieder vorbei. Die amerikanische Kommandantur zog weiter und wir konnten wieder in unser Haus zurück.
Beitrag von Norbert Theine / Redaktion Markus Mawick
Fotoquellen:
(1) Soldaten vor dem Kriegerdenkmal 1944: Sammlung Hubert Griewel
(2) Ruhrkessel: Kernec / Wikipedia
(3) Amerikanische Soldaten auf Panzer: Image: IWM (BU 2737) Imperial War Museum / Wikipedia
(4) Einnahme von Grevenstein: Photographer: Pfc. Jerome P. Musae, 166th Signal Photo Co. Photo Source: U.S. National Archives / Wikipedia
10 Antworten
Ein ausführlicher, beeindruckender und wichtiger Bericht. büderich.digital zeigt sich hier einmal mehr als lebendige Plattform. Danke fürs Teilen der Erinnerungen!
Hallo Herr Theine, besonders der Weiße Sonntag 45 war in den Erzählungen meines Vaters Eberhard und Onkel Alfons immer sehr präsent!
Vielen Dank für Ihre faktenreichen Erinnerungen. Wichtig in dieser Zeit.
Lieber Norbert, danke, dass Du Deine Erinnerungen mit uns teilst. Du hast uns eine wertvolle, mich sehr berührende, Zeitgeschichte geschenkt. Walter
Lieber Norbert, danke, dass Du Deine Erinnerungen mit uns teilst. Du hast uns ein wertvolles Zeitzeugnis geschenkt. Walter
Ein sehr beeindruckender und interessanter Bericht.
Vielen Dank an Onkel Norbert und an Markus.
Ein interessanter Artikel.
Schön, dass die Erinnerungen aufgeschrieben wurden.
Ein sehr interessanter Bericht, Text und Bild
Danke Norbert und Markus
„Das Internet vergißt nichts“ kann doch tatsächlich auch von Vorteil sein, wenn es es bald (leider) keine Zeitzeugen mehr gibt. Mehr davon!
Was für ein toller Bericht. Vielen Dank für eure Bemühungen.
Was für ein interessanter & authentischer Bericht. Danke fürs Teilen der Erinnerungen. So wichtig!