Es geschah auch in unserer Nachbarschaft

Es ist inzwischen 84 Jahre her, dass in der Pogromnacht vom 9. November 1938 Synagogen in Brand gesetzt wurden, jüdische Geschäfte verwüstet und geplündert wurden, Mitbürger jüdischen Glaubens misshandelt und zu Tode geprügelt wurden.

Wir kennen zumeist Bilder und Filmaufnahmen von dieser verharmlosend und zynisch „Reichskristallnacht“ genannten und von langer Hand geplanten Aktion der Nationalsozialisten aus den großen Städten. Aber wie sah es in unserer unmittelbaren Umgebung aus?

Seit nunmehr vier Jahren gibt es auch in Büderich Gedenksteine, anderswo Stolpersteine genannt. Sie erinnern uns daran, dass das dunkelste Kapitel unserer jüngeren Geschichte nicht nur irgendwo, sondern auch bei uns direkt vor der Haustür stattgefunden hat. Hier in der Kunibertstraße 8 lebte bis 1942 die jüdische Familie Stern, die seit den 1850er Jahren in der dritten Generation in Büderich ansässig war.

Die Gedenksteine für die Familie Stern vor ihrem früheren Haus Kunibertstraße 8

Israel Lehmann Stern betrieb in dem 1912 von seinem Vater erbauten Backsteinhaus eine Metzgerei, die einzige in Büderich. Obwohl Juden schon im Mittelalter von den meisten Handwerksberufen ausgeschlossen waren, musste ihnen aufgrund ihrer rituellen Speisegesetze die Ausübung des Metzgerhandwerks gestattet werden. Da jedoch in einem bäuerlich strukturierten Dorf viele Bewohner ihr eigenes Vieh hielten und dieses auch zu Hause schlachteten, war mit der Metzgerei alleine sicherlich keine Familie zu ernähren. So betrieb er zusätzlich einen Viehhandel. In den Schuppen hinter seinem Haus führte er auch Schlachtungen durch.

Die Fassade des früheren Hauses Stern Mitte der 1980er Jahre. Auf den Detailaufnahmen ist in dem Feld über dem Laden noch der Name Israel Stern und ganz schwach die Worte „Metzger“ und „Betrieb“ zu lesen. An sonsten hat sich die Fassade bis heute kaum verändert.

Die Familie Stern war die letzte in Büderich verbliebene jüdische Familie. In der Volkszählung von 1864 erfahren wir außerdem noch von der Familie Löhnberg, von dem Metzger Joseph Mond mit seiner Familie, dem Anstreicher Louis Cohn und dem Metzger Emanuel Katz, die ebenfalls jüdischen Glaubens waren und in Büderich wohnten.

Lehmann Stern und seine Frau Paula, die aus Buer stammte, hatten vier Töchter, die zwischen 1920 und 1930 geboren wurden: Helene, 1938 gestorben, Henny, dann Gisela, die bereits im ersten Lebensjahr gestorben ist und Theresa als Jüngste. Zusammen mit ihr ging übrigens Norbert Theine in  die Schule.

Kindergartenfoto vor dem alten Kindergarten in der Friedrichstraße aus dem Jahr 1926. Die Vergrößerung zeigt von links Helene und Henny Stern.

Antisemitismus gab es auch in Büderich schon lange vor 1933. Bereits 1912 lehnte es die Generalversammlung der Schützenbruderschaft ab, dass Lehmann Stern am christlichen Schützenfest teilnehmen durfte. Immer wieder wurde in den kommenden Jahren sein Antrag auf Teilnahme am Schützenfest abgelehnt, letztmals 1926 und das sehr harsch. Man wünschte keine weiteren Anträge und Diskussionen zu diesem Thema. In dieser Zeit wurde ihm auch die Teilnahme am katholischen Gottesdienst verboten.

Etwa 1938 untersagten ihm die Nazis dann den Betrieb seiner Metzgerei und des Ladens. So seiner Existenzgrundlage beraubt musste er sich als Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner unter anderem bei dem befreundeten Bauern Kortmann verdingen. Aber auch gegen diese Beschäftigung wurde hinterrücks gehetzt. So wurde Ferdinand Kortmann vom Ortsbauernführer angesprochen, warum er denn einen Juden beschäftigen würde. Dieser erwiderte nur, der Führer hätte doch gesagt, die Juden sollten mit den Händen arbeiten und das tut er doch bei mir.

Klassenfoto des Einschulungsjahrs 1937 der Volksschule Büderich. In der Vergrößerung erkennen wir Therese (Resi) Stern.

Anfang der 1940er Jahre wurde Lehmann Stern das erste Mal verhaftet und mehrere Wochen im KZ Oranienburg verhört und gefoltert. Fürchterliche Sachen seien passiert, sprach er gegenüber seinen Freunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Denn offiziell war es ihm verboten, auch nur ein Wort über diese Inhaftierung zu erzählen.

Im April 1942 kam dann für die gesamte Familie Stern der Befehl, sich zur Deportation am Werler Bahnhof einzufinden. Trotz Anfeindungen sorgte jener Ferdinand Kortmann dafür, dass die Sterns wenigstens mit einem Kutschwagen nach Werl gebracht wurden und nicht zu Fuß laufen mussten. Unter Tränen verabschiedeten sich die Sterns. Es war ihnen bewusst, was ihnen bevorstand.

Von Werl aus führte ihr Leidensweg wohl über Dortmund in ein Konzentrationslager auf heute polnischem Gebiet. Die jüngste Tochter Therese ist vermutlich schon auf dem Transport umgekommen. Henny wurde von ihren Eltern getrennt. Das letzte Lebenszeichen von ihr ist ein Brief, den sie heimlich über einen Soldaten an die Kaufmannsfamilie Poggel geschmuggelt hat.

Lehmann Stern wurde noch einmal in Polen bei Zwangsarbeit an einem Bahndamm von dem Kohlenhändler Alfons Krismann gesehen. Seine letzten Worte waren: „Grüß mir die Büdericher. Es
ist furchtbar!“

Der Journalist Winfried Sträter schrieb 1983 in einem Zeitungsartikel: „Eine von zahllosen jüdischen Familien im Dritten Reich. Die Erinnerung an sie wachzuhalten, sollte Verpflichtung sein. Denn wiedergutzumachen ist hier nichts mehr.“

 

Bericht von Markus Mawick

Bildnachweise:  Wikipedia (Jude, Gwiazda Dawida, Star of David, Davidstern, 1940-1944.jpg) / Lothar Drewke (Fassadenschrift) / Norbert Theine (Klassenfoto 1937)

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